Märchenhafte Liebe
Das Gesundheitsamt in Marburg hat letzte Woche die
Genehmigung für den Burgwald Märchen Marathon zurückgezogen. In Marburg hat man
Erfahrung mit Viren: 1967 trugen Versuchsaffen aus Uganda ein tödliches Virus,
das von Flughunden stammte, in die Uni von Marburg. Von 31 infizierten Menschen
starben sieben.
Das Orgateam des LDT Rauschenberg hat den Rückzug der
Genehmigung überlebt. Ruckzuck waren die zwei Marathonbosse wieder in Marburg
um einen Alternativplan vorzulegen: Zehn Beamte, die mit eigenen Ideen die Pandemie eindämmen
wollten, saßen den beiden gegenüber und starteten ein Verhör.
Heinz zeigte sich pragmatisch: Anstatt die 1000 Läufer an
einem Tag auf die Strecke zu schicken, wird nun Samstag, Sonntag und die Woche
drauf, Samstag und Sonntag gelaufen, jeweils alle sechs Laufstrecken. Man darf
auch virtuell laufen, oder seinen Startplatz auf 2021 übertragen. In die Kasse
des LDT Rauschenberg kommt ein dickes Minus, aber endlich mal Leben nach
Rauschenberg!
Es gab mal viel Leben in Rauschenberg, aber das ist lange
her. Söldner brachten Krankheiten, Tod und Hungersnöte. Die Erzählungen der
Überleben finden sich in 60 Märchen und Sagen wieder, die in Rauschenberg
verortet werden. Alle erzählen von grausamen Zeiten. Das berühmteste Märchen
Deutschlands erzählt von Kindsmord und Kannibalismus. Darüber lasse ich später meinen
Gedanken freien Lauf.
Jetzt stehe ich erstmal vor dem Austragungsgelände. Ich muss
die Regeln unterschreiben, werde abgehakt bekomme ein grünes Armband. Nun
stelle ich mich in die Schlange bei der Startnummernausgabe. Eine Überwachung durch
das Gesundheitsamt gibt es nicht, es ist schließlich Sonntag 8 Uhr. MN-Schutz
ist Pflicht im gesamten Startgebiet. Abstand zwei Meter. Aufs Klo darf man
maximal zu zweit, das sollte für die Damen eigentlich mal ausreichen. Zuschauer mussten sich online einen Schauplatz
ergattern.
Knapp 250.000 Einwohner hat der Landkreis. Es gibt aktuell
301 Infizierte, vier Einwohner sind seit Anfang März am Virus gestorben. es ist
wahrscheinlich, dass wir diesen Lauf überleben werden.
Der Start ist zeitlich versetzt, die Schnellen vorne, die
Langsamen hinten, Überholvorgänge sollen vermieden werden, das ist ganz in
meinem Interesse, wer mich überholt, hat eh einen an der Klatsche. Ich bin nicht
in der zweiten Welle, doch Söder sagt, wir alle sind in der zweiten Welle. Das
Lied „ Das ist die perfekte Welle“ wird seit dem Tsunami 2004 kaum noch
gesendet.
Ich darf los, eine Hand am Fotoapparat, die andere an der
Maske, die ich mir nach Überqueren der Linie runterreiße. Die Maske muss ab
sofort immer parat sein, ich hänge sie an den Brustgurt meines Rucksackes, verliere
sie, als ich an die Verpflegung aus meinem Rucksack muss. Es gibt nur drei
Verpflegungsstellen, das vermindert das Infektionsrisiko.
Ich habe mich für den Marathon entschieden, der ist schwierig genug, es geht insgesamt 550 Meter hinauf. Zunächst durch die Stadt, am Friedhof vorbei, hinauf durch den dunklen Märchenwald und an der Burgruine vorbei.
Wir kommen nach Wolfskaue, einem wunderschönen Ensemble von
Bauernhöfen, vor denen prallgefüllte Obstbäume wachsen. „Kaue“ bedeutet Kuhle,
hier gab es vor der Rodung im Mittelalter ein bedeutendes und aggressives
Wolfsrudel. Die Märchen von Rotkäppchen und vom Wolf mit den sieben Geißlein könnten
an diesem Ort verortet werden. Man nennt es heute Märchen, doch damals hatte
man schiere Angst. Letztes Jahr ist hier wieder ein Wolf gesichtet worden.
Vielleicht hat man in Albshausen immer noch Albträume vom
bösen Wolf. Der mit Bäumen gesäumte Weg hinab nach Albhausen ist Lauftraum: Man
überblickt die Weite der Landschaft und sieht unten die bunten Läufer
aufgereiht, einfach klasse.
Das Wasser aus dem Wadebach, an dem wir nun entlanglaufen
könnte man trinken. 642 Menschen mit Namen Wadebach stehen in den
Schiffregistern der Auswanderer nach Amerika. Die Auswanderer verpfändeten ihre
Höfe. In Bremerhaven nannten sie sich noch Meier, Müller etc. In New York warf
man seine Dokumente weg, nahm den Namen seines Herkunftsortes an. So konnten man
von seinen Gläubigern nicht mehr gefunden werden. Dane Rauschenberg aus Pennsylvania,
war vor drei Jahren hier, er wusste nicht, warum sein Nachname „Rauschenberg“
ist. Im Hotel Lindenhof hatte er am Abend vor dem Lauf seinen mit Wasser
gefüllten Laufrucksack in das Kühlhaus des Hotels gegeben. Am nächsten Tag hat
er vier Stunden lang einen Eisblock auf dem Rücken gehabt, ohne je einen Schluck
aus dem Schlauch nuckeln zu können.
Links die Wiesen um den Wadebach, rechts der Hochwald,
schöner Lauf auf befestigtem Weg, dann geht’s rechts ab, hinauf zu den bewaldeten
Höhen.
Der Aufstieg ist nicht sonderlich schwer, aber ich. An der T-Kreuzung bei km 11 der erste VP. Zwei Läufer werden sich im Laufe des Tages für mein langjähriges Engagement für Bier am VP bedanken.
Marathon-und Ultraläufer laufen nun linksrum, die Halben
nach rechts. Ich habe nichts gegen befestigte Waldwege, da braucht man nicht
die Füße zu heben und kann sinnieren:
Es war nach dem dreißigjährigen Krieg(1618-48): Ein Armer
Holzfäller zerbricht sich den Kopf, wie er zwei Kinder und eine Frau
durchfüttern soll. Die Frau schlägt vor, die Kinder im Wald auszusetzen. In der
ersten Fassung von 1812 war die Frau die leibliche Mutter. Die Grimms haben
1843 daraus die Stiefmutter gemacht. Irritierend ist, dass Hänsel das Brot, das
seine Mutter ihm mitgibt, opferte, um zurück zu seiner (bösen) Mutter zu
finden. Die Stiefmutter laut Gebrüder Grimm, und jetzt wird es interessant,
hatte dieselbe Wortwahl wie die Hexe, sie macht den Kindern klar, dass sie
verspeist werden würden, dabei war die Hexe so reich, dass sie ihr Haus mit Nahrung
dekorierten konnte. Als Hänsel und Gretel die Hexe im Ofen verbrannt hatten,
gingen sie nach Hause und oh Wunder, deren leibliche Mutter war gestorben. War also
die Hexe die Mutter? Andere Frage: Kann man seine eigenen Kinder essen? Ich
glaube nicht, eigene Kinder wurden verkauft und dann erst verspeist, am besten
schmecken sie gedünstet.
An der Abzweigung, beim Rundweg sitzen wie jedes Jahr nette Herren, die eventuell noch den dreißigjährigen Krieg erlebt haben, jedenfalls sind sie sehr besorgt um mich. Der weitere Weg um den Diebskeller, den Hintersprung und die Franzosenwiesen ist sehr gut markiert, die restlichen Kilometer werden runtergezählt.
Das Moor „Rotes Wasser“ ist ausgetrocknet, weil umgepflügt,
man will renaturieren. Die Runde um die Franzosenwiese dauert, die Ultras machen
diese 10 Kilometer-Runde zweimal. Die schnellen Ultras überholen mich, man
wechselt einige Worte, oft heißt es: „Ich bin froh, dass wir überhaupt laufen
dürfen.“ Es ist wohl der erste kommerzielle Lauf in Hessen seit der Krise. Aber
niemand ist bisher auf die Idee gekommen, die Läufer auf vier Tage aufzuteilen,
das gibt es nur in Rauschenberg. Wer will, der kann sich sogar noch für
nächstes Wochenende anmelden, da ist noch was frei.
Ich erreiche den VP an der T-Kreuzung und packe mir eine
Flasche in den Rucksack (noch 13 bis zum Ziel). Es gibt zwar noch einen VP zwei
Kilometer vor dem Ziel, aber der ist eher für die Kinderläufe gedacht, da gibt
es natürlich nicht mein Lieblingsgetränk.
Die Streckenführung geht jetzt direkt zur Hauptstraße ins
Wodratal. Muss sein, denn wegen der anfängliche
Tour durch den Märchenwald hätten wir sonst mehr als 42 bzw 52 Kilometer zu
laufen. Virusbedingt gibt es keine Bratwürste und kein Halligalli im Ziel. Die
Freundschaft gegenüber diesem Marathon wird
in diesem Jahr zur Liebe, denn eine Orga, die weder Verluste noch Arbeit
scheut, die liebt uns Läufer wirklich!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen